Johann Peter Eckermann − Gespräche mit Goethe (20)(Weltschmerz der Dichter − Goethe spottet über «Lazarett-Poesie»; Heinrich Heine)
Mittwoch den 24. September 1827.
Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuhren wir ab; der Morgen war sehr schön. Die Straße geht anfänglich bergan, und da wir in der Natur nichts zu betrachten fanden, so sprach Goethe von literarischen Dingen. Ein bekannter deutscher Dichter1) war dieser Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen sein Stammbuch gegeben. »Was darin für schwaches Zeug steht, glauben Sie nicht, sagte Goethe. Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseit[s], und unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Missbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustand zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller echten Kraft und nur bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne. Ich habe ein gutes Wort gefunden, fuhr Goethe fort, um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazarett-Poesie nennen; dagegen die echt tyrtäische diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.« [...] 1) Am 21. September 1827 hatte Goethe Besuch von dem romantischen Dessauer Dichter Wilhelm Müller (1794−1827) und dessen Frau erhalten.
Es ist nicht auszuschließen, dass Eckermann die heftige Kritik Goethes an „allen" damaligen Dichtern in einen unverfänglichen Rahmen steckte. Denn hinter dem in dieser Pauschalität nicht gerechtfertigten goetheschen Rundumschlag könnte sich insbesondere eine Kritik an der Poesie Heinrich Heines verbergen. Der hatte Goethe Ende Dezember 1821 seinen ersten Gedichtband gesandt, ein poetisches Konglomerat aus Trübsal und Tristesse. Eine persönliche Begegnung mit Goethe in Weimar am 2. Oktober 1824 empfand Heine wegen ausbleibenden Lobes geradezu als demütigend. Eckermann könnte wegen der letztlich daraus resultierenden wiederholten niederträchtigen Anfeindungen Heines bemüht gewesen sein, in dieser brisanten Textpassage alle konkreten Hinweise auf Heine zu verwischen, um weiteren Angriffen gegen Goethe und vor allem gegen sich selbst zu entgehen. Auffällig ist dabei, dass Heine trotz seiner Bekanntheit in den „Gesprächen mit Goethe" erst im dritten Band von 1848 namentlich erwähnt wird und das auch nur beiläufig im Zusammenhang mit der Heine-Platen-Affäre (14. März 1830).
S. a. Goethe über die Gedichte Uhlands: "Ich nahm den Band mit der besten Absicht zu Händen, allein ich stieß von vorne herein gleich auf so viele schwache und trübselige Gedichte, dass mir das Weiterlesen verleidet wurde." (Eckermann, Gespräche mit Goethe, 21. Oktober 1823)
Eckermann, Gespräche mit Goethe. An der gekennzeichneten Stelle gekürzt. Überschrift und Nummerierung vom Herausgeber eingefügt.
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